Marktort Prüm - Gesinde- und Dingmarkt

Prüm, Stadt Prüm Hahnplatz

Beschreibung
Ein Mädchen geht zum Dingmarkt.

Zufrieden betrachtet Maria ihre Vorbereitungen für den nächsten Tag. Beim Bett stehen extra blank poliert ihre Sonntagsschuhe. Frisch ausgebürstet hängt der Mantel am Haken der Kammertür. Das junge Mädchen dreht sich, ihre neues blau kariertes Kattunkleid vor sich haltend, barfuß auf breiten Eichendielen der Kammer. Wo immer sie gerade einen nackten warmen Fuß hebt, zeigt der eisigkalte Fußboden kurzzeitig seinen feuchten Abdruck und lässt weißen Dunst daraus hochsteigen.
Doch die Kälte spürt Maria nicht, so sehr freut sie sich, fast übermütig, über ihr erstes eigenes neues Kleid.
Nicht wieder ein abgelegtes von Katharina, ihrer ältesten Schwester. Und gerade ihr verdankt sie diesen besonderen Schatz, den sie nun sorgfältig auf den einfachen Holzstuhl legt, ausbreitet und näher im Schein der Petroleumlampe betrachtet.
Diesen Stoff und die Knöpfe hat Katharina für sie ausgesucht und das Kleid in ihrem Nähkursus angefertigt. Sie bestand darauf, dieses Kleid für Maria zu nähen, weil diese jetzt aus der Schule kam, und fertigte nicht, nach dem Willen der Mutter, Sonntagsschürzen an für die drei Schwestern.

Mit Bett, Nachttisch und Stuhl ist die Möblierung von Marias Schlafkammer unter der Dachschräge aufgezählt. Ergänzt wird sie vom Weihwasserkesselchen an der Tür, dessen gesegnetes Wasser aber schon seit Tagen eingefroren ist. Seit dem Spätsommer hängt unter dem schwarzen Holzkreuz über ihrem Bett ein selbst geflochtenes Ährenkränzchen.

Mit zufriedenem Blick auf ihr neues Kleid weiß Maria, jetzt ist alles bereit und geht zum Fenster. Sie löst ihre blonden Flechten für die Nacht und schaut in den Abendhimmel hinaus. Dunkelgrau liegt er mit einem zarten rötlichen Schein nach Westen hin. Beim Anblick der sich darunter dehnenden Wiesen fröstelt das Mädchen. Dort, wo es noch im Herbst die Kühe hütete, deckt Schnee stellenweise die Flächen. Jetzt spürt Maria die Kälte der ungeheizten Kammer. Morgen ist Stefanstag, der 26. Dezember. Dann ist es soweit. Angst bricht warm in ihr auf, ihr Herz klopft stärker. Wie wird es auf dem Dingmarkt ausgehen? Ob ein Bauer sie einstellt?

Mit ihrem Vater hat sie alles besprochen. Sie ist im November 14 geworden und will nun etwas tun für die Familie, genau wie andere in ihrem Alter. Die sagen, dann gibt es einen Esser weniger daheim. Maria hat das Wort "Esser" oft genug gehört, vor kurzem erst, nach der Geburt eines Nachbarkindes: "Schon wieder ein Esser mehr! Als hätten die genug, allen die Münder zu stopfen!"

Maria’s daheim ist die Vulkaneifel. Und die hat wahrlich nicht genug Brot um alle Münder ihrer Bewohner zu stopfen. Bitterarm waren hier viele Familien bis die Eisenbahn 1872 kam. Vorher versuchte mancher Familienvater durch Korbflechten oder Waldarbeit ein wenig Bargeld zu verdienen. Das Wetter in diesem Teil der Eifel war denkbar ungünstig. Es fehlte sowohl an gutem Dünger wie geeignetem Saatgut. Den durch oftmaliges Teilen schmal gewordenen, steinigen Äckern unter diesen widrigen Umständen eine kleine Ernte abzuringen, war härteste Handarbeit mit einfachsten, oft selbst hergestellten Arbeitsgeräten. Die Arbeitskraft einer ganzen Familie, auch die der Kinder wurde dazu gebraucht. Die Wälder waren jahrhundertlang für die Eisengewinnung abgeholzt worden. So pfiffen über die kahl geschlagenen Berge gnadenlos die Stürme. Frost überzog Täler und Nordhänge in jedem Monat des Jahres. Die Eltern konnten kaum abwarten, bis eines ihrer Sprösslinge laufen und "verstännisch"(verständig) genug war schon kleine Handreichungen zu machen.

So kam die Eisenbahn mit ihren Arbeitsplätzen als Segen für manchen Eifeler Kleinbauern, der dort Arbeit fand und damit ein geringes aber regelmäßiges Einkommen. Weite Fußmärsche zu diesen Arbeitsplätzen wurden in Kauf genommen. Bei Wind und Wetter gehen die fleißigen Männer von Büscheich gut 7 Kilometer zum Arbeitsplatz an der Bahn nach Gerolstein und nach einem harten Arbeitstag abends wieder zurück. Genauso weit tragen ihre Frauen ein paar Eier oder etwas Butter zum Tauschhandel für Notwendiges, wie Salz und Hefe, in ein Geschäft. Dabei ist dies nicht vom Überfluss, die Familien bräuchten diese Nahrungsmittel eigentlich selbst. Denn die Kühe, die auch Zugtiere sind, geben nur wenig Milch. Es gibt eben zu viele hungrige Münder.

Maria weiß das. Deshalb wird sie morgen mit ihrem Vater nach Gerolstein gehen, von da mit dem Zug nach Prüm fahren, um dort auf dem Dingmarkt Arbeit zu finden.

Im Bett kommt kein Schlaf, viel zu unruhig sind ihre Gedanken. Auf der einen Seite froh, jetzt endlich mehr für ihre Familie tun zu können, wird ihr doch bang vor dem Unbekannten, das da auf sie zukommt. Hellwach hört sie das Hundegebell aus der Nachbarschaft und dann den Vater, der wie allabendlich, kurz vor dem Zubettgehen, seinen Gang um Haus, Stall und Scheune macht, um nach dem Rechten zu sehen. Ich will beten, denkt Maria, dann überlasse ich dem lieben Gott alles, was ich nicht überblicken kann. So hat sie es von den Eltern gelernt. Sie bläst die Lampe aus und nach ihren gewohnten und den besonderen Gebeten schläft sie ein.

Am Morgen ist sie beizeiten in der Küche. Auch hier ist es eisigkalt. Gerade werden die Fensterläden geöffnet. "Über Nacht hat es geschneit", sagt die Mutter, die im Herd Feuer anzündet. "Willst du wirklich gehen, Kind?" fragt sie und schaut ihre Tochter eindringlich an. "Ja", antwortet das Mädchen, indem es versucht die Angst mit einem unbefangenen Gesichtsausdruck zu verdecken: "Sorg dich doch nicht so um mich, Mutter. Andere vor mir sind ja auch gegangen."

Der Kaffeetisch ist gedeckt mit Brot und Butter. Die Mutter bringt den frisch aufgegossenen Malzkaffee vom Herd, als der Vater kommt. Er nimmt das große, runde, von seiner Frau gebackene Brot in die Hände und zeichnet mit dem Messer ein Kreuz darüber, bevor er es anschneidet. Das Frühstück ist fast vorbei, als man am Tisch ein wenig Wärme vom Herd spürt. Vater und Tochter drängen zum Aufbruch. Die Mutter geht mit ihnen bis zur Küchentür, hier taucht sie zwei Finger in das Weihwasser und zeichnet Maria ein kleines Kreuz auf die Stirn. "Geht mit Gott!" sagt sie und begleitet sie zur Haustür. Ein schneidender Wind empfängt die drei und bläst pulvrigen Schnee in den steingefliesten Flur. Sorgenvoll schaut die Frau den beiden nach. Dann dreht sie sich ruckartig um. Sie muss in den Stall. Die Kühe werden gemolken, das Schwein und die Hühner gefüttert danach werden die kleineren Kinder versorgt.

Der frische Schnee knirscht unter den Schritten von Vater und Tochter, während sie durch das stille Dörfchen gehen. Hier und dort fällt ein schwacher Lichtschein aus einem Fenster oder einer Stalltür, ein paar Schornsteine qualmen, ein wachsamer Hund schlägt an. Heute ist die unebene Schotterstraße durch den frisch gefallenen Schnee etwas gepolstert. Bald erreichen die beiden den dunklen Wald. Oben am Himmel zeichnen die Spitzen der Fichten ihren Weg nach. Der Vater treibt zur Eile an. Der Zug wartet nicht. Sie reden sie nicht, jeder ist mit seinen Gedanken unterwegs. Leise fällt neuer Schnee.

Am Gerolsteiner Bahnhof herrscht reger Betrieb. Gerade fährt die Dampflok ein. Fauchend zieht sie an den zurücktretenden Fahrgästen vorbei bis zu ihrem Haltepunkt. Viele Reisende steigen in die 4. Klasse mit den seitlich angelegten langen Holzbänken ein, es sind Leute mit Traglasten. In Körben transportieren sie Hühner, die in diesen ungewohnten engen Käfigen aufgeregt flattern. Das Ziel ist eindeutig der Prümer Markt.

Maria und ihr Vater nehmen Platz auf den Holzbänken der 3. Klasse. Abpfiff. Ruckend setzt sich der Zug in Bewegung. An jedem Bahnhof der Strecke hält er mit viel Getue wieder an, um weitere Fahrgäste einsteigen zu lassen. Unbekannte Dialektformen klingen Maria in den Ohren. Der Schaffner kommt, die Fahrkarten werden gelocht. Er erkennt Marias Vater als Bahnkollege und wechselt ein paar freundliche Worte mit ihm, natürlich auf Platt. Ein paar Mitreisende stimmen eine lustige Weise an: "Op dem Prümer Maat, do hammer vill Pläsier, do jämmir Bouere voll baal jede Kier."(Auf dem Prümer Markt, da haben wir viel Pläsier, da werden wir Bauern voll, fast jedes Mal). Alle lachen. Maria reibt mit dem Ärmel die beschlagene Fensterscheibe vom Dunst frei und schaut in die so schnell vorübereilende, ihr völlig unbekannte Landschaft.

Die Wangen des Mädchens sind leicht gerötet, als sie in Prüm aussteigen. Der bekannte Kram- und Viehmarkt mit dem angeschlossenen Dingmarkt zieht viele Interessenten von nah und fern an. Ein Gewirr von Ständen hat sich auf dem sonst so geräumigen Hahnplatz vor der Basilika angesiedelt. Maria hat aber vorerst nur Augen für diesen imposanten Bau mit den zwei wuchtigen Türmen. Die erste große Kirche, die sie sieht. Zwar fand sie in einem Lesebuch einmal das Bild vom Kölner Dom. Aber das war doch kein Vergleich zu dieser gewaltigen steinernen Realität direkt vor ihr.

Jetzt zieht der Vater Maria vor die Stände. Was es hier alles gibt! Und alles in solch großen Mengen. Nicht eine Mausefalle, nein, hunderte und dazu in so vielerlei Arten! Stände präsentieren Speicherer Tonwaren, andere sind voller Töpfe und Pfannen, Wannen und Geschirr. Dort ein Stand mit Kurzwaren, mit den herrlichsten bunten Knöpfen und Bändern, hier wird Bürstenzeug, dort werden Melkschemel und fein gedrechselte Spinnräder feilgeboten. Maria kommt aus dem Staunen nicht heraus.

Das also ist ein Markt. Aber wo ist das Gesinde? Jetzt sieht Maria eine Anzahl Menschen, die nicht munter an Ständen vorbeigehen sondern mit ernsten schmalen Gesichtern zusammenstehen. Manche frieren offenbar in viel zu dünner Kleidung, sie stampfen mit ihren derben vom Schuster gefertigten genagelten Schuhen auf das Pflaster und klopfen sich dabei die Arme warm. Gut gekleidete Dienstherren gehen umher. Einer ordert gerade einen jungen, etwas schlaksigen Burschen, ein paar Schritte vor ihm hin- und herzugehen, um ihn besser taxieren zu können. Der junge Knecht hinkt und wird abgelehnt. Achselzuckend geht er wieder zu den Wartenden und reiht sich ein. Einige scheinen Arbeit gefunden zu haben. Sie werden mit den Bauern handelseinig, sie gehen in Richtung Marktschenke. "Die gehen jetzt zum Umtrunk", sagt der Vater, "damit wird nach dem Handschlag der Dienstvertrag besiegelt. Der Dingherr zahlt dem neuen Knecht oder der Magd den Mietpfennig (3 Mark)."
Maria ist mit ihren 14 Jahren so groß wie die meisten der hier Stehenden und doch ist es ihr bang als sie sich dazu stellt. "Ich bin ja noch da", tröstet der Vater sie, "es ist nicht weiter schlimm, wenn du heute nichts findest".

Beide haben den Bauern im Lodenmantel nicht bemerkt, der sie vom Töpferstand aus beobachtet. Jetzt kommt er auf sie zu und nennt, wie in der Eifel üblich, seinen Familiennamen zuerst, dann seinen Vornamen und den Ort, aus dem er kommt. Auch der Vater stellt sich so mit seiner Tochter vor.
"Ihr sucht für das Mädchen da Arbeit?", "Ja", sagt der Vater, "sie erst 14, aber groß und stark. Zum Schaffen hat sie gutes Geschick. Uns daheim wird sie fehlen."

Maria weiß nicht mit dem ungewohnten Lob umzugehen. Für sie ist es doch selbstverständlich, dass sie von klein an ihren Eltern überall zur Hand ging. Aber dass sie ihnen fehlen wird? Dieser Satz berührt sie innen an einer ungewohnten Stelle. Eifeler sind nicht gewohnt, Lob zu hören, oder ihr Herz auf der Zunge zu tragen. Ihrs schlägt jedenfalls bis zum Hals und so zieht sie sich schützend den Mantel darüber fest zusammen. Aber sie blickt dem Dienstherrn frei ins Gesicht. Nach Büdesheim wäre das also. Der Bauer besitzt Pferde. Das sind für Maria unbekannte Tiere. Niemand in ihrem Dorf besitzt eins. Trotzdem erklärt sie sich bereit, eins schirren und führen zu lernen, in Haus, Garten und auf dem Feld, bei der Pflege der Kinder, überall wo Bedarf ist, mitzuhelfen.
Dann wir der Jahreslohn ausgehandelt: Zwei Ferkelchen für den Vater, für Maria Kost und Logis.
"Kräftiges Essen... und satt", verspricht der Dingherr.
Am Lichtmesstag (2. Februar) wird für Maria das Jahr in Büdesheim beginnen. Mit Handschlag besiegeln die drei ihre Abmachung. Stolz schaut Maria ihren Vater an. Schnell noch wirft sie einen Blick zu den anderen Arbeitssuchenden.
Sie hat es jedenfalls geschafft.
Ihrer Familie verhilft sie mit ihrer Arbeit zu zwei Ferkelchen und damit zu Fleisch für ein ganzes Jahr.
Und im Jahr danach, denkt sie, wird sie noch mehr erarbeiten, wenn sie sich weiterhin gut anstellt. Froh - und mit einem starken Gefühl des Erwachsenseins - geht sie nun mit dem Vater durch die Reihen der Stände. Er bleibt an einem großen Tisch mit duftenden Marktwecken stehen. Einen kleinen davon kauft er der Tochter. Aber die kann jetzt nichts essen, viel zu aufgeregt ist sie über das Geschehene. Deshalb lässt sie sich den Wecken einpacken.

"Lass uns vor der Rückfahrt noch in die Basilika gehen", bittet sie den Vater.
In der großen Kirche zieht es sie vor den Seitenaltar mit den vielen hell flackernden Kerzen. Vor der Gottesmutter knien die beiden nieder und verweilen eine Zeit lang. Maria merkt nichts von der klammen Kälte der Kirche, von innen her wärmt sie frohe Dankbarkeit. Denn die Ihren können auf sie zählen! Dadurch fühlt sie sich jetzt stark und erwachsen.
Dann wird es Zeit aufzubrechen. Sie geht mit ihrem Vater zum Ausgang, sie bekreuzigen sich mit dem geweihten Wasser und treten durch das hohe Portal ins Freie.

Eine wahre Geschichte. Meine Mutter war Maria. Sie hat mir von ihrem Dingmarkterlebnis berichtet. Es war mir wichtig, das aufzuschreiben. [1]

Einordnung
Kategorie:
Geschichte / Wirtschaft, Gewerbe und Verkehr / Marktorte
Zeit:
1924
Epoche:
20. Jahrhundert

Lage
Geographische Koordinaten (WGS 1984) in Dezimalgrad:
lon: 6.425092
lat: 50.207040
Lagequalität der Koordinaten: Genau
Flurname: Ortslage

Internet
http://www.pruem.de/

Datenquellen
[1] © Wilma Herzog, Gerolstein, 2013.

Bildquellen
Bild 1: © Mona Idems, Kordel, 2012.
Bild 2: Viehmarkt in Kleinich um 1900. Sammlung Kurt Stumm, 2017.

Stand
Letzte Bearbeitung: 26.10.2017
Interne ID: 26105
ObjektURL: https://kulturdb.de/einobjekt.php?id=26105
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